Donnerstag, 23. Mai 2013

1853 - Die dicke Agnes - aus Schöppners Sagenbuch

Schöppner, Alexander, Sagen, Sagenbuch der Bayerischen Lande, Zweiter Band, 562. Die dicke Agnes - Zeno.org


562. Die dicke Agnes.
 Erz. von Adalb. Müller (Braun u. Schneiders Hauschronik I., 9.).

Als man zählte nach des Herrn Geburt fünfzehnhundert Jahre und noch zehn darüber, lebte in der alten und weltberühmten Freistadt Regensburg die Tochter eines Blechschmiedes, welche man insgemein das »Liebfrauenbildlein« benamste, sintemal sie über die Massen schön war von Antlitz und Gestalt. In der Taufe hatte man ihr den Namen Klara beigelegt, und als sie herangewachsen, pflog sie der Gottesfurcht und Ehrbarkeit, wie es einer feinen Jungfrau ziemt.


An einem Sonntage, als sie aus der Frühmesse heimkehrte, begab es sich, daß ihr ein stattlicher Junker in den Weg kam; der war in Sammt und kostbares Rauhwerk gekleidet und trug auf der Brust eine schwere goldene Kette und auf dem Haupte ein Barettlein mit wehendem Federschmucke. Und wie er des holdseligen Mägdleins ansichtig wurde, blieb er stehen und schaute ihr fast betroffen längs der Straße nach, bis sie um die Ecke ging.

 


Folgenden Montags war Klärchen nach ihrer Gewohnheit zu St. Kassian in der Messe, und wie sie aus der Kirche trat, stand der Junker da und nickte ihr einen Gruß zu. Und am Erchtage grüßte er wieder und schob ihr unversehens ein Brieflein in die Hand. Darüber erröthete die Jungfrau hoch und meinte eine glühende Kohle zwischen den Fingern zu halten. Doch wollte sie das Brieflein nicht fallen lassen, um des Geredes der Leute willen. Sie verbarg es daher sorglich im Busentuche, mit dem Vorhaben, es daheim dem Feuer zuzutragen. Und wenn sie also gethan hätte, wäre ihr großes Leid erspart gewesen. Im Kämmerlein aber wurde sie andern Sinnes; denn es gefiel ihr das zierlich gefaltete Pergament, absonderlich das goldgestickte Band, mit welchem es umwickelt war. Und[117] indem sie sann und das Brieflein hinum und herum drehte, ließ sich plötzlich ein Stimmchen vernehmen, wie das Zirpen einer Grille, und sprach: »Nun thörichte Dirne, was zögerst du lange? Frisch d'ran! Die todten Buchstaben beißen nicht.« Wer aber so redete, das war ein winziges, kaum zollhohes Weiblein, welches in einer Ecke der Kemenat kauerte. Die Jungfrau entsetzte sich anfangs ob des Spukes; weil aber die Kleine sonder Arg schien und gar freundlich that, so ließ sie sich bereden und griff nach der Schere. Und in dem Augenblicke, da das Band losging, wuchs das Weiblein um eines Fingers Länge in die Höhe.


Am Mittwoche ging Klärchen nicht in die Messe, sondern riegelte sich in ihrer Kammer ein, als wäre sie unwohl. Mittlerweile aber suchte sie den Brief wieder vor und vernahm, wie der Junker von heftiger Liebe gegen sie entbrannt sei und nimmermehr von ihr lassen könne und um sie dienen wolle als ein ehrbarer, redlicher Freier. Solches stand mit gar schmucken Worten im Briefe geschrieben. Und während sie noch las, erschien das Weiblein abermals und rief: »Horch auf, mein Töchterchen! hörst du nicht Sporenklang auf der Gasse?« Und Klärchen eilte an's Fenster und sah den Junker einhergehen. Der gewahrte sie, wie sie hinter dem Vorhange lauschte; denn die verliebten Fante haben Falkenaugen. Und er grüßte herauf, und sie grüßte hinunter. Das Weiblein aber kicherte in's Fäustchen und wurde unter dem Lachen einen Werkschuh hoch, da es eben nur fingerlang gewesen.


Donnerstag, während des Essens, zankte der Blechschmied mit seiner Tochter und sagte: »Du träumst bei lichtem Tage und wirfst mehr Salz in die Suppe, als meinem Gaumen lieb ist und die Katze stiehlt vor deinen Augen das Fleisch aus dem Topfe.« Gegen Abend, im Zwielichte, kam das Weiblein wieder und trug ein Kästchen von Ebenholz unter dem Arme und sprach: »Nimm hin! es ist eine Gedenkgabe von deinem Freier.« Klärchen aber trat zurück und entgegnete: »Hebe dich von dannen, Versucherin! Eine tugendsame Jungfrau soll nicht Geschenke nehmen.« Da zog das Weiblein murrend ab; an der Thüre indeß wendete es sich nochmal und sagte: »Geschenkt ist wohlfeiler als gekauft! Besinne dich wohl und sieh, was du verschmähst.« Mit diesen Worten öffnete es das Kästchen und, o Herrlichkeit! innen lag ein prachtvolles Halsgeschmeide, von eitel Gold und reich mit Perlen und Edelgestein besetzt. Das flimmerte und funkelte Klärchen gar verführerisch in die Augen, und sie nahm das Kästchen und trat vor den Spiegel und gefiel sich überaus in dem[118] gleißenden Putze. Das Weiblein klopfte dazu in die Hände und rief: »Jetzt magst du die Nase so hoch tragen, wie des Hausgrafen Monika.«


Am Freitage war der Handel so weit gediehen, daß der Junker im Finstern über die Gartenmauer stieg und zu Klärchen in die Laube kam. Das Weiblein war heute schon eine Elle hoch. Der Junker koste gar traulich mit der Blechschmiedstochter und sagte ihr noch viel schönere Dinge, als er im Briefe geschrieben. Inzwischen hielt das Weiblein Wache am Eingange der Laube – und siehe da! bei jedem Liebesworte und bei jedem Händedrucke wuchs es um einen Zoll in die Höhe und einen Zoll in die Dicke.


Und als Sonnabends das Paar aus der Laube trat, stand ein übermenschlich großes Weibsbild da, vierschrötig wie ein Lanzknecht und an Umfang einer Biertonne gleich. Klärchen verhoffte und schrie: »Was schaffest du hier, du Ungestalt?« Die Riesin aber schlug eine helle Lache auf und entgegnete: »Wie, mein Töchterchen, kennst du deine alte Freundin nicht mehr? Ich bin die dicke Agnes, und du hast mich wohl gehalten und ernährt, daß ich, vorerst ein winziger Däumling, also hochgewachsen und feist geworden bin.«


Es ist aber zu wissen, daß die dicke Agnes ein höllisches Gespenst war, welches um selbe Zeit in der Stadt sein Unwesen trieb. Das machte sich an die Leute, anfänglich in Gestalt eines daumenlangen Weibleins, und verlockte sie vom rechten Wege durch jene Redensarten und Gemeinplätze, womit das Laster sein Thun zu beschönigen pflegt. Und wo es nicht kräftig abgewiesen wurde durch Gebet und frommen Sinn, da blieb es hangen, gleich einem Vampyr, und saugte sich voll und gedieh und wuchs heran zum ungeschlachten Monstrum.


Klärchen, das arme Klärchen – nachdem der vornehme Junker eine Zeit lang seine Kurzweil mit ihr vollbracht, verließ er sie, unbeirrt von ihren Vorwürfen und Thränen, und ehelichte die Tochter eines reichen Geschlechtes. Aehnlich erging es andern Jungfrauen, die mit der Agnes sich eingelassen und manche von ihnen fielen so tief, daß man nach der Hand ihre Namen im Register des Reichstagsprofosen verzeichnet fand, welchem bekannter Massen die Obhut über die fahrenden Dirnen anvertraut war. Was das Mannsvolk belangt, so nahm das Gespenst sein Absehen insbesonders auf die Ladenbursche und sonst junge Leute, die ungezähltes Geld in dem Bereiche ihrer Finger hatten. Denen blies es ein: »Ein paar Pfennige schaden deinem Herrn nicht – er spürt's nicht.[119] Ein Hellerchen ist noch lang kein Thälerchen!« oder: »Ein dummes Roß, das am Barn steht und nicht frißt!« – und wie die Sprüchlein alle lauten, womit angehende Gauner und Diebe ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen suchen. Und etliche von diesen bethörten Gesellen huben an mit einem Griffe in den Ladentisch und endeten als Straßenräuber.


Solch einreißendes Verderbniß machte dem wohlweisen Rathe großes Bedenken und man dachte alles Ernstes darauf, wie man des Spukes Meister werde. Mit leiblichen Waffen aber konnte man ihm nichts anhaben, und so ging man denn die ehrwürdigen Väter Minoriten um Beihülfe an. Diese bannten, der Sage nach, das Gespenst nicht ohne Mühe, in den tiefen Keller eines verödeten Hauses an der Bäckenspreng, wo man es noch lange Jahre nachher in der Zeit zwischen Gebetläuten und Hahnenschrei wimmern und ächzen hörte zum Schrecken aller Vorübergehenden.


Quelle:


Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 116-119.


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