Sonntag, 28. März 2021

1909 - Jules Vernes: Der Pilot an der Donau

http://www.zeno.org/Literatur/M/Verne,+Jules/Romane/Der+Pilot+von+der+Donau

Der Roman beschreibt eine spannende Geschichte, bei der Protagonist unter anderem auch Station in Regensburg macht. Beschrieben ist dies im sechsten Kapitel, einleitend im 5. Kapitel. Hier oder bei zeno.org in vollem Wortlaut nachlesbar:


http://www.zeno.org/Literatur/M/Verne,+Jules/Romane/Der+Pilot+von+der+Donau/6.+Kapitel
 
Kaum bekannt: es gibt ein Bild mit einer Szene am Haidplatz.



Seite 76, Szene am Haidplatz;
Bildtitel: Stelle dich, als ob du mich nicht kenntest.







Hier nur der Text ab Kapitel 5:

 Fünftes Kapitel.

Karl Dragoch.

[60] Sobald er seine Quittung in der Tasche hatte, begann Jäger sich häuslich einzurichten. Nachdem er sich wegen des ihm einzuräumenden Lagers erkundigt hatte, verschwand er in der beschränkten Kajüte, wohin er den Ledersack mitnahm. Zehn Minuten später trat er wieder, vom Kopf bis zu den Füßen verwandelt, daraus hervor. Er war jetzt ein richtiger Fischer – mit grober Wolljacke, schweren Stiefeln und Otterfellmütze bekleidet – und erschien als das vollkommene Abbild Ilia Bruschs.
Jäger verwunderte sich ein wenig, als er bemerkte, daß sein Wirt während seiner kurzen Abwesenheit die Jolle verlassen hatte. Seiner übernommenen Verpflichtung gemäß erlaubte er sich jedoch keine Frage, als jener in einer halben Stunde zurückkam. Ohne ihn dazu aufgefordert zu haben, hörte er jedoch, daß Ilia Brusch geglaubt hatte, den Zeitungen einige Mitteilungen zugehen lassen zu sollen mit der Meldung, daß er übermorgen Abend in Neustadt und am nächsten Tage in Regensburg einzutreffen hoffe. Jetzt, wo auch die Interessen Jägers mit ins Spiel kamen, lag ihm daran, nicht wieder so unerwartet und unbeobachtet zu erscheinen, wie hier in Ulm. Ilia Brusch äußerte sogar sein Bedauern, nicht in den vor Neustadt gelegenen Städten anhalten zu können, vorzüglich in Neuburg und in Ingolstadt, die beide ziemlich wichtige Orte sind. Solche Unterbrechungen paßten nun einmal nicht in den seine Etappen betreffenden Plan, er mußte also darauf verzichten.
Jäger war sehr erfreut über die Reklame, die um seinetwillen gemacht wurde, und zeigte sich gar nicht verdrossen darüber, Neuburg und Ingolstadt nicht besuchen zu können. Er stimmte seinem Wirte vielmehr bei und versicherte ihm wiederholt, daß er, wie beide übereingekommen wären, in keiner Weise beabsichtige, ihn in seiner Freiheit zu beeinträchtigen.
Die beiden Genossen aßen dann, auf einer der Bänke rittlings und einander gegenübersitzend, ihre Abendmahlzeit. Als Willkomm bereicherte [61] Jäger sogar noch die Speisekarte mit einem vorzüglichen Schinken, den er aus seinem unerschöpflichen Reisesack geholt hatte, und dieses Erzeugnis der Stadt Mainz fand den größten Beifall Ilia Bruschs, der an seinem Begleiter schon recht gute Eigenschaften zu entdecken anfing.
In Ulm, wo die Fahrt durch Württemberg ihr Ende fand und die durch Bayern begann, ist die Donau erst noch ein bescheidner Fluß.
Sie hat noch nicht die großen Nebenarme aufgenommen, durch die sie sich stromabwärts so ansehnlich verbreitert, und nichts könnte hier zu der Vorhersage verleiten, daß sie sich noch zu einem der mächtigsten Ströme Europas entwickelte. Die schon etwas gemäßigte Strömung erreichte jetzt nahezu eine Schnelligkeit von vierundeinhalb Kilometer in der Stunde. Fahrzeuge von allen Größen, darunter schon schwere, zur Talfahrt belastete Schiffe glitten darauf hinunter, zuweilen unterstützt durch ein großes Segel, das sich unter einer Nordwestbrise blähte. Das Wetter versprach gut zu bleiben, jedenfalls drohte vorläufig kein Regen.
Mitten in der Strömung angelangt, ergriff Ilia Brusch seine Riemen und trieb das Boot noch schneller vorwärts. Einige Stunden später fand ihn Jäger noch in gleicher Weise tätig, und das ging so bis zum Abend ohne Unterbrechung weiter, bis auf eine kurze Rast in der Frühstücksstunde, in der das Boot aber auch weiter hinabglitt. Der Passagier machte dazu keine Bemerkung, und wenn er sich darüber wunderte, behielt er das doch für sich.
Im Laufe dieses Tages wurden nur wenige Worte gewechselt. Ilia Brusch ruderte eifrig weiter. Jäger beobachtete mit einer Aufmerksamkeit, die dem andern, wenn er weniger geschäftig gewesen wäre, hätte auffallen müssen, die auf der Donau vorüberziehenden Schiffe oder ließ den Blick abwechselnd über die beiden Ufer schweifen, die jetzt wesentlich niedriger waren. Der Strom zeigte schon die Neigung, sich auf Kosten des anliegenden Geländes zu verbreitern. Das linke, da und dort etwas überschwemmte Ufer war nicht immer scharf zu erkennen, während auf dem rechten, durch einen Bahndamm künstlich erhöhten Ufer die Züge dahinrollten, die Lokomotiven keuchten und ihren Rauch mit dem der Dampfboote vermischten, deren Schaufelräder das Wasser geräuschvoll aufwühlten.
In Offingen, woran man am Nachmittage vorüberkam, bog die vom Strome verdrängte Bahnlinie nach Süden ab, und nun wurde auch das [62] rechte Ufer zu einem ausgedehnten Sumpfe, dessen Ende nicht zu erblicken war. Am Abend hielt das Boot dann für die Nacht vor Dillingen an.
Nach Zurücklegung einer ebenso anstrengenden Wegstrecke wie der gestrigen wurde der kleine Anker einige Kilometer oberhalb Neuburgs an einem verlassenen Punkte ausgeworfen, und aufs neue stieg am 15. August das Morgenrot erst am Himmel empor, als die Jolle schon wieder in der Strömung schwankte.
Für diesen Abend hatte Ilia Brusch seine Ankunft in Neustadt angemeldet. Es wäre beschämend gewesen, hier mit leeren Händen einzutreffen. Da der Zustand der Atmosphäre günstig und die zurückzulegende Strecke wesentlich kürzer war als die frühern, entschloß sich Ilia Brusch, einmal zu angeln.
Von den ersten Tagesstunden an sah er seine Geräte sorgsam nach. Sein auf dem Hinterteile sitzender Begleiter schien sich, wie es einem richtigen Sportliebhaber zukommt, für diese Vorbereitungen eifrig zu interessieren.
Bei diesen unterließ es Ilia Brusch jedoch nicht, ein wenig zu plaudern.
»Heute, Herr Jäger, will ich, wie Sie sehen, einmal fischen; die Vorbereitungen dazu dauern freilich etwas lange. Die Fische sind ziemlich mißtrauischer Natur, und man kann nicht vorsichtig genug sein, sie anzulocken. Einige darunter, z. B. die Schleie, sind geradezu intelligent zu nennen. Man muß sie zu überlisten verstehen, ihr Maul ist aber so hart, daß es zuweilen die Schnur zerreißt.
– So viel ich weiß, meinte Jäger, wird die Schleie nicht gerade hoch geschätzt.
– Nein; sie liebt schlammiges Wasser, das ihrem Fleische oft einen unangenehmen Beigeschmack verleiht.
– Und der Hecht?
– O, das ist ein vortrefflicher Fisch, erklärte Ilia Brusch, vorausgesetzt, daß er seine fünf bis sechs Pfund wiegt; die kleinen sind weiter nichts als Gräten. Jedenfalls kann der Hecht aber nicht den intelligenten und listigen Fischen zugezählt werden.
– Wirklich, Herr Brusch?... Der Haifisch des Süßwassers, wie man ihn nennt, ist also...
[63] –... ebenso dumm, wie der im Salzwasser, Herr Jäger. Beide stehen in dieser Hinsicht nicht höher als der Barsch und der Aal. Ihr Fang ist nutzbringend, rühmlich aber nicht. Es sind, wie ein Kenner sagt, Fische, die sich selbst fangen und die nicht der Angler fängt.«
Jäger mußte unwillkürlich die ansteckende Überzeugung Ilia Bruschs bewundern, und das nicht weniger, als die peinliche Sorgfalt, womit er seine Geräte zurechtmachte.
Zuerst hatte er seine elastische und leichte Angelrute vorgenommen, die vorher am äußern Ende fast zum Brechen gebogen, bald wieder so gerade war, wie vorher. Die Rute bestand aus zwei Teilen, der eine am untern Ende fast vier Zentimeter dick und verjüngt bis zu einem Zentimeter am obern Ende, wo sich der zweite Teil daran anschloß, der aus seinem, besonders haltbarem Holze bestand. Der aus einem Zweige der Haselstaude angefertigte zweite Teil war fast vier Meter lang, was es dem Fischer ermöglichte, auch den ein Stück vom Ufer am Grunde stehenden Fischen, wie den Brachsen und den Rotzungen, nachzustellen.
Ilia Brusch zeigte Herrn Jäger auch die Haken, die er an dem Florentiner Haar befestigte.
»Sie sehen, Herr Jäger, sagte er dazu, das sind sehr dünne Haken, solche von Nummer elf. Als Köder gibt es für das Rotauge nichts besseres als aufgequellte Getreidekörner, die an einer Seite aufgeplatzt und durchweg hübsch weich sind. Na, das wäre ja fertig, und nun will ich mein Glück versuchen.«

Einander gegenübersitzend, aßen die beiden Genossen ihre Abendmahlzeit. (S. 60.)
Einander gegenübersitzend, aßen die beiden Genossen ihre Abendmahlzeit. (S. 60.)

Während Jäger sich jetzt an das niedrige Kojendach lehnte, setzte er sich, seinen kleinen Hamen zur Hand, auf eine der Bänke, und warf unter gebührendem, einer gewissen Grazie nicht entbehrendem Balancieren die Schnur weit hinaus. Die Haken versanken in dem gelblichen Wasser und die Bleistücke darüber sicherten ihnen eine lotrechte Lage, die nach der Ansicht aller Fischer von Beruf, vorzuziehen sein soll. Über ihnen schaukelte der Schwimmer, der, aus einer Schwanenfederspule und Kork hergestellt, kein Wasser ansaugt und vor allem nicht untersinken kann.
Natürlich herrschte im Boote von jetzt an tiefes Schweigen. Stimmengeräusch erschreckt die Fische gar zu leicht, und ein ernstlicher Fischer hat andres zu tun, als bei seiner Arbeit zu schwätzen. Er muß den Schwimmer aufmerksam beobachten und darf den richtigen Augenblick, die Beute mit [64] dem Haken zu fesseln, nicht vergessen. Mit dem heutigen Vormittage konnte Ilia Brusch zufrieden sein. Er hatte gegen zwanzig Rotaugen und daneben noch ein Dutzend Alante und noch andre Fische gefangen.
Wenn Jäger wirklich ein so leidenschaftlicher Angelliebhaber war, wie er sich dessen rühmte, mußte er jedenfalls die Sicherheit bewundern, womit sein Wirt den Haken etwas aufschnellen ließ, wie es bei den Fischen dieser Art nötig ist. Sobald er fühlte, daß »etwas anbiß«, hütete er sich jedoch, den Fang sofort an die Wasseroberfläche herauszuziehen, [65] sondern ließ den Fisch, bei dessen Bemühungen, vom Haken wie der loszukommen, sich erst ermüden, und er zeigte dabei das unerschütterlich kalte Blut, das eine der Haupteigenschaften des seines Namens würdigen Fischers ist.

Die Liebhaber überboten einander... (S. 66.)
Die Liebhaber überboten einander... (S. 66.)

Der Fischfang wurde um elf Uhr beendigt. In der schönen Jahreszeit beißt der Fisch in den Stunden nicht an, wo die Sonne in ihrem Hochstande das Wasser zum Glitzern bringt. Übrigens war die Ausbeute ja für heute [66] schon genügend. Ilia Brusch hielt sie gegenüber dem ziemlich unbedeutenden Neustadt wo er um fünf Uhr Halt machte, sogar für etwas zu groß.
Damit täuschte er sich freilich. Fünfundzwanzig bis dreißig Personen harrten hier schon seiner Ankunft und begrüßten ihn, sobald das Boot angelegt war, mit lautem Beifall. Bald wußte er nicht mehr, auf welches Gebot er hören sollte, und in kürzester Zeit waren die Fische gegen siebenundzwanzig Gulden vertauscht, die Ilia Brusch als erste Dividende seinem Begleiter auf der Stelle aushändigte.
Im Bewußtsein, an der Bewunderung der Leute keinen Anteil zu hab en, hatte der sich bescheiden unter das Kojendach zurückgezogen, wo Ilia Brusch ihn aufsuchte, sobald er seiner enthusiastischen Bewunderer quitt geworden war. Es galt jetzt keine Zeit zu verlieren, um zu schlafen, da die Nachtruhe nur kurz sein sollte. Da Ilia Brusch daran gelegen war, in dem volle sechzig Kilometer entfernten Regensburg beizeiten einzutreffen, hatte er sich vorgenommen, in sehr früher Morgenstunde weiterzufahren, weil er dann trotz der langen Strecke noch Zeit gewann, auch morgen zu fischen.
Gegen dreißig Pfund Fische hatte Ilia Brusch denn auch schon am Vormittag erbeutet, und die Neugierigen, die sich auf dem Kai in Regensburg drängten, hatten es nicht zu bereuen, sich seinetwegen hierherbegeben zu haben. Der Enthusiasmus der Menge nahm sichtlich zu. Die Liebhaber überboten einander, und die dreißig Pfund Fische brachten dem Preisträger des Donaubundes nicht weniger als einundvierzig Gulden ein.
Dieser selbst hätte sich einen solchen Erfolg niemals träumen lassen und er kam schon auf den Gedanken, daß Jäger schließlich ein vorzügliches Geschäft machen werde. Jetzt fühlte er sich natürlich verpflichtet, die einundvierzig Gulden ihrem rechtmäßigen Eigentümer zu überliefern, sah sich augenblicklich dazu aber außerstande. Jäger hatte sich unbemerkt von der Jolle entfernt und an seinen Begleiter nur die kurze Mitteilung hinterlassen, daß dieser mit dem Abendessen nicht auf ihn warten möge, da er erst spät am Abend zurückkehren würde.
Ilia Brusch fand es ganz natürlich, daß Jäger die Gelegenheit benützen wollte, eine Stadt zu besuchen, die einst fünfzig Jahre lang kaiserliche Residenz gewesen war. Vielleicht wäre er darüber weniger zufrieden als erstaunt gewesen, wenn er gewußt hätte, was sein Passagier hier vorhatte, und wenn ihm dessen Person richtig bekannt gewesen wäre.
[67] »Herr Jäger, Wien, Leipziger Straße 43« hatte Ilia Brusch gelehrig nach dem Diktat des neuen Ankömmlings geschrieben. Der wäre aber in arge Verlegenheit gekommen, wenn der Fischer neugieriger gewesen wäre und vielleicht, indem er selbst eine Befragung vornahm, deren Unannehmlichkeit er am eigenen Leibe gespürt hatte, von Jäger verlangt hätte, ihm seine Papiere vorzuzeigen.
Ilia Brusch vernachlässigte diese Vorsicht, deren Rechtmäßigkeit ihm ja deutlich demonstriert worden war, und diese Vernachlässigung sollte für ihn die schlimmsten Folgen haben.
Welchen Namen der Gendarm auf dem ihm von Jäger vorgewiesenen Passe gelesen hatte, wußte niemand; wenn das aber der des wirklichen Eigentümers gewesen war, konnte es nur der Name Karl Dragoch sein.
Der leidenschaftliche Angelfreund und der Chef der neuen Donaupolizei waren tatsächlich ein und dieselbe Person. Entschlossen, in Ilia Bruschs Boot um jeden Preis Aufnahme zu finden, hatte Karl Dragoch, in Voraussicht der Möglichkeit eines kaum zu überwindenden Widerstandes, seine Maßregeln danach getroffen. Das Eingreifen des Gendarmen war eine abgekartete Sache und der Auftritt ebenso wie einer auf der Bühne vorbereitet gewesen.
Der Erfolg zeigte, daß Karl Dragoch richtig gerechnet hatte, denn Ilia Brusch betrachtete es jetzt, gegenüber ähnlichen, ihm vielleicht drohenden Gefahren, für ein Glück, einen Beschützer zu haben, an dessen mächtigem Einflusse er nicht zweifeln konnte.
Dieser Erfolg war sogar so groß gewesen, daß Dragoch sich darüber wunderte. Warum hatte sich Ilia Brusch dem Auftreten des Gendarmen gegenüber so auffallend ängstlich gezeigt? Warum hatte er eine solche Furcht, nochmals einem Abenteuer dieser Art zu begegnen, daß er dieser Furcht sogar die – übrigens auch etwas übertriebene – Vorliebe für das Alleinsein opferte? Ein ehrlicher Mann hat doch – zum Kuckuck! – das Erscheinen vor einem Polizeikommissar nicht zu fürchten. Die schlimmste Folge davon konnte doch nur eine Verzögerung von einigen Stunden, höchstens einigen Tagen sein, und wenn man keine besondre Eile hat... Doch, Ilia Brusch schien es ja sehr eilig zu haben, und das gab wiederum zu denken.
[68] Von Natur mißtrauisch, wie jeder gute Polizist, dachte Karl Dragoch darüber nach. Er hatte aber zuviel gefunden Menschenverstand, sich durch flüchtige Einzelheiten irreführen zu lassen, die später vielleicht eine ganz einfache Erklärung fanden. Er prägte seinem Gedächtnis also nur kleine Beobachtungen ein und verwendete seine geistigen Anlagen auf die Lösung des ihm am Herzen liegenden Problems, das ja wichtiger war, als jener unbedeutende Zwischenfall.
Der Plan, den Karl Dragoch verfolgte, als er sich Ilia Brusch als Passagier aufdrängte, war keineswegs in seinem Gehirn entsprungen. Dessen wahrhafter Urheber war vielmehr Michael Michaelowitsch gewesen, der davon freilich nichts ahnte. Als der lustige Serbe scherzweise geäußert hatte, der Preisträger des Donaubundes könnte ja – je nach Belieben – entweder der verfolgte Verbrecher oder der verfolgende Polizist sein, da hatte Dragoch diesen leicht hingeworfenen Worten eine ernste Aufmerksamkeit geschenkt. Natürlich hatte er sie nicht wörtlich genommen. Er wußte ja recht gut, daß der Fischer und der Polizist nichts miteinander gemein hatten, und er betrachtete es deshalb als höchstwahrscheinlich, daß der Fischer auch nicht mehr Beziehung zu dem Verbrecher haben werde. Daraus aber, daß eine Tat nicht begangen worden ist, folgt ja nicht, daß dies nicht noch geschehen könnte, und Karl Dragoch dachte sogleich, daß der lustige Serbe damit recht haben könne, daß ein Detektiv, der die Donau zu überwachen wünschte, nichts besseres tun könnte, als sich als Fischer zu verkleiden, damit niemand in ihm seinen wahren Beruf vermutete.
So verlockend diese Kombination auch erschien, mußte er sie doch außer acht lassen. Der Wettstreit von Sigmaringen hatte stattgefunden, und Ilia Brusch, der Sieger im Turnier, hatte öffentlich seine Absicht angekündigt, und gewiß würde er nicht zu haben sein, dabei einen andern an seine Stelle treten zu lassen. Übrigens wäre das auch ein sehr gewagter Personenwechsel gewesen, da die Züge des Preisträgers viel zu vielen seiner Kollegen bekannt waren.
Wenn er sich aber nun sagen mußte, daß Ilia Brusch nicht zustimmen würde, die angekündigte Reise unter seinem Namen von einem andern unternehmen zu lassen, konnte er seinen Zweck doch vielleicht auf Umwegen erreichen. Bei der Unmöglichkeit, selbst als Ilia Brusch aufzutreten, konnte sich Karl Dragoch ja damit begnügen, diesen auf der Fahrt in seinem [69] Boote zu begleiten. Wer würde da auf den Begleiter eines Mannes achten, der fast berühmt geworden war und der folglich das öffentliche Interesse auf sich konzentrierte? Und selbst wenn einer einen flüchtigen Blick auf den unbekannten Begleiter warf, würde er doch niemals auf den Gedanken kommen, in diesem den Polizisten zu sehen, der hier im Schutze eines Inkognitos seinen Auftrag erledigte.
Nach langer Prüfung dieses Planes erschien er Karl Dragoch ganz vortrefflich, so daß er beschloß, ihn auszuführen. Der Leser weiß, wie ungemein geschickt er die erste Szene beim Zusammentreffen zu gestalten wußte, dieser wären, wenn nötig, aber auch noch andre ähnliche gefolgt. Wenn es nicht anders ging, wäre Ilia Brusch dem Polizeikommissar zugeführt, sogar unter irgendwelchem Vorwande in Hast genommen und auf hunderterlei Weise in Angst gesetzt worden. Karl Dragoch hätte jedenfalls ohne Gewissens bisse ganz nach Willkür gehandelt, bis der erschreckte Fischer in dem erst abgewiesenen Passagier nichts andres als seinen Retter aus der Not erblickt hätte.
Der Detektiv schätzte sich jetzt aber immerhin glücklich, ohne moralischen Zwang gesiegt zu haben und diese Komödie nur bis zum ersten Akte haben spielen zu brauchen.
Jetzt saß er an dem gewünschten Platze, überzeugt, daß sein Wirt, wenn er diesen Platz verlassen wollte, dem ebenso bestimmt, wie früher seiner Aufnahme in das Boot, widersprochen haben würde. Nun galt es, die günstige Lage auszunützen.
Dazu brauchte sich Karl Dragoch ja nur von der Strömung mit hinabtragen zu lassen. Während sein Begleiter angelte oder ruderte, konnte er den Strom im Auge behalten, wo seinem geübten Blicke nichts Auffallendes entgehen würde. Unterwegs aber konnte er sich mit seinen längs der Ufer verstreuten Untergebenen besprechen. Auf die erste Meldung einer Untat oder eines Verbrechens wollte er sich von Ilia Brusch trennen, um den Übeltätern nachzuspüren, und dasselbe beabsichtigte er auch, wenn ein verdächtiges Vorkommnis, ohne daß es noch zur Ausführung eines Verbrechens gekommen war, seine Aufmerksamkeit erweckte.
Alles das war klug und weise ausgedacht, und je mehr er sich's überlegte, desto mehr beglückwünschte sich Karl Dragoch wegen seiner Idee, die seine Aussichten auf Erfolg vervielfältigte, während sie sein Inkognito [70] auf der ganzen Donaustrecke sicherte. Bei diesem Gedankengange hatte Karl Dragoch aber leider den Zufall außer Rechnung gelassen. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß eine Reihe seltsamer Ereignisse seine Nachforschungen nach einer ganz andern Richtung ablenken und seiner Aufgabe unerwartet weitere Grenzen stecken würde.
Quelle:
Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 60-70.
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Sechstes Kapitel.

Die blauen Augen.

[70] Als Karl Dragoch die Jolle verlassen hatte, begab er sich nach den innern Stadtteilen. Er kannte Regensburg, und, ohne über die einzuhaltende Richtung im Zweifel zu sein, wanderte er durch die stillen, da und dort von zehn Stockwerke hohen Warttürmen unterbrochenen Straßen der einst geräuschvollen Stadt, die gegenwärtig kaum von einer Bevölkerung von sechsundzwanzigtausend Seelen belebt wird.
Karl Dragoch dachte jedoch nicht daran, die Stadt zu besuchen, wie Ilia Brusch glaubte, Er reiste ja nicht als Tourist. Unweit von der Brücke kam er schon nach dem Dome, einem großen Bauwerke mit unvollendeten Türmen; er warf aber nur einen flüchtigen Blick auf dessen merkwürdiges Portal, das aus dem 15. Jahrhundert stammt. Ebensowenig dachte er daran, den Palast der Fürsten von Thurn und Taxis zu bewundern, oder die gotische Kapelle und das spitzbogige Kloster, so wenig wie die merkwürdige Sammlung von Pfeifen – übrigens eine Sehenswürdigkeit – die dieses enthält. Auch das Rathaus, den einstmaligen Sitz des Reichstags, dessen Saal mit sehr alten Tapeten geschmückt ist, wollte er nicht besuchen, wo noch vom Wachtmeister nicht ohne einen gewissen Stolz die Folterkammer mit all ihren schrecklichen Marterwerkzeugen gezeigt wird. Ein Trinkgeld für einen ortskundigen Führer brauchte er auch nicht auszugeben. Er bedurfte keines solchen, und ohne jemandes Hilfe kam er nach dem Postgebäude, wo mehrere Briefe unter verabredeter Chiffre seiner warteten.
[71] Nachdem er die Briefe gelesen hatte, ohne daß seine Züge sich dabei veränderten, wollte er eben den Schalterraum verlassen, als ein ziemlich gewöhnlicher Mann ihm an der Tür entgegentrat.
Dieser Mann und Dragoch kannten einander denn mit einer Handbewegung unterbrach der Detektiv den andern als der zu sprechen anfangen wollte. Die Geste bedeutete offenbar: »Nicht hier.« Da begaben sich beide nach einem Platze in der Nähe.
»Warum hast du mich nicht am Stromufer erwartet? fragte Karl Dragoch, als er sich vor indiskreten Lauschern geschützt glaubte.
– Ich fürchtete, Sie zu verfehlen, lautete die Antwort. Und da ich wußte, daß Sie nach der Post kommen würden...
– Schon gut; du bist jetzt da, das ist die Hauptsache, unterbrach ihn Karl Dragoch. Nichts neues?
– Gar nichts.
– Nicht einmal ein gewöhnlicher Diebstahl in dem Bezirke?
– Weder im hiesigen Bezirke noch anderswo längs der Donau.
– Bis wieweit reichen deine letzten eingelaufenen Meldungen?
– Es war kaum vor zwei Stunden, wo ich von Zentralbureau in Budapest ein Telegramm erhalten habe. Auf der ganzen Linie ist alles ruhig.«
Karl Dragoch sann einen Augenblick nach.
»Du wirst dich an meiner Stelle nach dem Polizeibureau begeben, dort deinen Namen, Friedrich Uhlmann, nennen und bitten, es dir schleunigst zu melden, wenn irgend etwas vorfallen sollte. Dann reisest du sofort nach Wien ab.
– Aber unsre Leute?
– Die laß meine Sorge sein. Ich werde sie schon im Vorüberkommen sehen. Stelldichein in Wien, heut über acht Tage... so lautet der Tagesbefehl.
– Dann wollen Sie den obern Fluß also ohne Bewachung lassen? fragte Uhlmann.
– Dort wird die Ortspolizei genügen, antwortete Dragoch, und beim geringsten Alarm sind wir sofort zur Stelle. Bisher ist übrigens oberhalb Wiens nichts passiert, was uns besonders anginge. So dumm sind unsre Leute nicht, ihre Tätigkeit so weit vom Hauptstützpunkte zu verlegen.
[72] – Ihrem Hauptstützpunkte? wiederholte Uhlmann Hätten Sie darüber besondre Nachrichten?
– Nein, jedenfalls aber eine Ansicht.
– Und die wäre?
– Zu neugierig, Uhlmann... Ich sage aber, daß wir zuerst jedenfalls zwischen Wien und Budapest zu tun haben werden.
– Warum dort zuerst?
– Weil dort das letzte Verbrechen begangen worden ist. Du weißt doch von dem Landmann, dem sie eingeheizt haben und den man bis zu den Knien verbrannt aufgefunden hat.
– Für die Kerle ein Grund mehr, ihre Tätigkeit anderswohin zu verlegen.
– Warum das?
– Weil sie sich sagen werden, daß die Gegend, wo jenes Verbrechen verübt worden ist, besonders scharf überwacht sein wird. Sie müssen also weiter ziehen, ihr Glück zu versuchen. So haben sie es wenigstens bis jetzt gehalten: nie zweimal hintereinander an demselben Orte.
– Da haben sie wie Dummköpfe geurteilt, und du, Friedrich Uhlmann, du machst es nicht viel besser, erwiderte Karl Dragoch. Doch gerade auf ihre Dummheit rechne ich. Alle Zeitungen haben mir, wie du gesehen haben mußt, einen ähnlichen Gedankengang zugeschrieben. Sie haben mit lieblicher Übereinstimmung berichtet, daß ich die obere Donau verließe, wo die Burschen nicht wieder aufzutreten wagen würden, und daß ich mich nach dem südlichen Ungarn zu begeben gedächte. Ich brauche dir wohl nicht versichern, daß daran kein wahres Wort ist, du kannst aber glauben, daß jene tendenziösen Mitteilungen ihre Wirkung auf die Betreffenden nicht verfehlt haben.
– Und daraus schließen Sie?...
– Daß sie das südliche Ungarn vermeiden werden, um dem Wolfe nicht in den Rachen zu laufen.
– Die Donau ist nur sehr lang, wendete Uhlmann ein; sie geht durch Serbien, Rumänien und die Türkei...
– Richtig; aber der Krieg? Dort ist für sie nichts zu holen. Das wird sich ja bald zeigen.«
Karl Dragoch schwieg einen Augenblick still.
[75] »Hat man meine Anweisungen gewissenhaft befolgt? fuhr er dann fort.
– Ganz gewissenhaft.
– Die Überwachung des Stromes ist fortgesetzt worden?
– Tag und Nacht.
– Ohne daß etwas Verdächtiges bemerkt worden ist?
– Nicht das geringste. Alle Jollen, alle Schuten hatten ihre Papiere in Ordnung. Ich muß Ihnen hierbei jedoch sagen, daß diese strenge Kontrolle rechte Unzufriedenheit erregte. Die Flußschiffer erheben dagegen Einspruch, und ich finde, daß sie damit nicht unrecht haben. Auf den Fahrzeugen, sagen sie, wäre doch nichts zu suchen, und auf dem Wasser wären doch keine Verbrechen begangen worden.«

»Stelle dich, als ob du mich nicht kenntest.« (S. 76.)
»Stelle dich, als ob du mich nicht kenntest.« (S. 76.)

Karl Dragoch runzelte die Brauen.
»Ich halte die Besichtigung der Jollen, der Schuten und selbst der kleinsten Boote für sehr wichtig, antwortete er trocknen Tones, und möchte hiermit ein-für allemal ausgesprochen haben, daß ich Einwendungen dieser Art nicht liebe.«
Uhlmann bog sich, so zurechtgewiesen, etwas zusammen.
»Schön, wie Sie wünschen, Herr Dragoch!«
Dieser aber fuhr fort:
»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde. Vielleicht bleib' ich in Wien, vielleicht begebe ich mich noch nach Belgrad. Das hängt von Umständen ab. Da es aber darauf ankommt, mich auf dem Laufenden zu erhalten, wirst du mir immer schriftlich Nachricht, und zwar in soviel Exemplaren geben, wie zur Verteilung an unsre zwischen Regensburg und Wien stationierten Leute nötig sind.
– Schön, Herr Dragoch, antwortete Uhlmann. Doch ich... wo werde ich Sie wiedersehen?
– Wie ich schon gesagt habe, nach acht Tagen in Wien«, erwiderte der Detektiv.
Dann dachte er einige Augenblicke nach.
»Vergiß nicht, nach der Polizei zu gehen, und dann benutze den ersten Zug.«
Uhlmann entfernte sich bereits, als Karl Dragoch ihn zurückrief.
»Du hast doch wohl von einem Fischer, einem gewissen Ilia Brusch, reden hören? fragte er.
[76] – Von dem, der es unternommen hat, mit der Angel in der Hand die ganze Donau hinunterzufahren?
– Ganz recht. Wenn du mich also einmal mit dem siehst, so stelle dich, als ob du mich nicht kenntest.«
Hiermit trennten sich beide. Uhlmann verschwand im obren Stadtteile, während Karl Dragoch das Hotel zum Goldnen Kreuz aufsuchte, wo er speisen wollte.
Als er an der Tafel Platz nahm, saßen bereits ein Dutzend Gäste daran, die sich von dem und jenem unterhielten. Karl Dragoch aß mit bestem Appetit, mischte sich aber nicht in das allgemeine Gespräch. Er horchte nur, wie ein Mann, der das Ohr offen zu halten gewöhnt ist, auf alles, was rings um ihn gesagt wurde. Dabei hörte er auch wie einer der Tischgäste an seinen Nachbar die Frage richtete:
»Nun, und von der berüchtigten Bande weiß man noch weiter nichts?
– Nicht mehr als von dem berühmten Brusch, antwortete der andre. Man erwartete sein Eintreffen in Regensburg, bis jetzt hat man aber noch nichts davon gehört.
– Das ist merkwürdig.
– Wenn Brusch und der Anführer der Bande nicht einunddieselbe Person ist.
– Das ist wohl zum Lachen!
– Nun... wer kann's wissen?...«
Karl Dragoch hatte die Augen erhoben. Das war zum zweite einmal, daß diese Vermutung, wenn auch in der Luft schwebend, seine Aufmerksamkeit erregte. Er zuckte dazu aber nur unbemerkbar mit den Achseln und vollendete seine Mahlzeit, ohne ein Wort geäußert zu haben. Das waren doch wohl nur leichte Redereien. Und er mußte gut unterrichtet sein, jener Schwätzer, daß er von Bruschs Ankunft in Regensburg noch nicht einmal etwas wußte.
Nach Beendigung seines Abendessens ging Karl Dragoch wieder nach den Kais hinunter. Er wendete sich jedoch nicht gleich der Jolle zu, sondern blieb kurze Zeit auf der alten Steinbrücke stehen, die Regensburg mit seinem Vororte Stadt am Hof verbindet. Hier blickte er über den Strom hin, wo einige Fahrzeuge im letzten Tagesschimmer noch eilig dahinglitten.
[77] Dabei versank er völlig in seine Gedanken, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihn gleichzeitig eine wohlbekannte Stimme anrief.
»Man sollte glauben, Herr Jäger, daß das alles hier Sie besonders interessierte.«
Karl Dragoch sah sich um und erkannte, ihm dicht gegenüber, Ilia Brusch, der ihm lächelnd ins Gesicht sah.
»Ja gewiß, antwortete er, das Leben auf dem Strom hat etwas anziehendes, so daß ich nicht müde werde, es zu betrachten.
– O, Herr Jäger, da wird es Sie noch mehr interessieren, wenn wir erst auf den Unterlauf des Stromes kommen, wo noch weit mehr Schiffe verkehren. Sie sollen das einmal sehen, wenn wir am Eisernen Tor sind. Kennen Sie das?
– Nein, antwortete Dragoch.
– Das muß man gesehen haben! erklärte Ilia Brusch eifrig. Wenn es auf Erden keinen schöneren Strom als die Donau gibt, so gibt es längs der ganzen Donau keine schönere Stelle als dieses Eiserne Tor!«
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Ilia Bruschs große Taschenuhr zeigte auf die neunte Stunde.
»Ich befand mich unten in der Jolle, als ich Sie, Herr Jäger, auf der Brücke erkannte. Wenn ich Sie aufgesucht habe, geschah das nur, um Ihnen zu melden, daß wir morgen ganz zeitig abfahren müssen und es deshalb wohl geraten erscheint, uns bald niederzulegen.
– Ich folge Ihnen, Herr Brusch«, sagte einfach Karl Dragoch.
Beide stiegen nun zum Ufer hinunter. Als sie um das Ende der Brücke schritten begann der Passagier:
»Nun, und der Verkauf unsrer Fische, Herr Brusch? Sind Sie damit zufrieden gewesen?
– Mehr als zufrieden. Herr Jäger. Ich habe Ihnen einundvierzig Gulden zu überliefern.
– Das wären mit den siebenundzwanzig früher ein genommenen schon achtundsechzig Gulden. Und jetzt sind wir erst in Regensburg. Ach, mein Herr Brusch, das Geschäft scheint nicht so schlecht zu werden!
– Das glaub' ich jetzt fast selbst«, meinte der Fischer.
Eine Viertelstunde später schlummerten beide nebeneinander, und bei Sonnenaufgang war das Fahrzeug schon fünf Kilometer von Regensburg [78] entfernt. Stromabwärts von dieser Stadt gewähren die Ufer der Donau einen sehr wechselnden Anblick. Auf dem rechten dehnen sich über Sehweite hinaus fruchtbare Ebenen aus, ein lachender, ertragreicher Landstrich, wo es weder an Dörfern noch an Städten fehlt, während das linke von dichten Waldmassen gesäumt ist hinter denen sich Hügel erheben, die bis zum Böhmerwalde reichen.
Im Vorüberfahren konnten Jäger und Ilia Brusch den Sommersitz der Fürsten von Thurn und Taxis sehen auch das alte Bischofsschloß von Regensburg, und weiterhin, auf dem Salvatorberge, die Walhalla, eine Art unter den Himmel Bayerns – denn der gleicht nicht dem Attikas – verirrtes Parthenon, das einst König Ludwig I. erbaut hatte. Das Innere bildet ein Museum mit den Büsten der Helden und andern Berühmtheiten Deutschlands, es steht aber seiner Anlage nach gegen die schöne Außenarchitektur zurück. Wenn die Walhalla also auch nicht dem Parthenon Athens gleichkommt, so übertrifft sie doch bei weitem das entsprechende ähnliche Gebäude, womit die Schotten einen der Hügel von Edinburg, des »alten Rauchfangs«, geschmückt haben.
Die Entfernung zwischen Regensburg und Wien ist, wenn man den vielen Windungen der Donau folgt, sehr groß. An dieser vierhundertfünfundsiebzig Kilometer langen Wasserstraße liegen aber nur sehr wenige, einigermaßen bedeutende Städte. Von diesen wäre nur Straubing, die Kornkammer Bayerns, zu nennen, wo die Jolle am Abend des 18. August anhielt, ferner Passau, das am 20. erreicht wurde, und Linz, an dem sie im Laufe des 21. vorüberkam. Außer diesen Städten, von denen die beiden letzten eine gewisse strategische Bedeutung haben, von denen aber keine über zwanzigtausend Einwohner zählt, gibt es hier nur ganz unbedeutende Ortschaften.
Statt der Menschenwerke genießt hier der Tourist, um der Langenweile zu entgehen, wenigstens das wechselnde Bild, das die Stromufer bieten. Unterhalb Straubing, wo die Donau schon eine Breite von vierhundert Metern hat, wird sie wieder schmäler, während die ersten Verzweigungen der Rhätischen Alpen das rechte Ufer überragen.
In Passau, das an der Vereinigung dreier Wasserläufe, der Donau, des Inn und der Ilz liegt, von denen angeblich die beiden ersten zu den bedeutendsten gehören, verläßt man das Deutsche Reich, und unmittelbar [79] unterhalb der Stadt wird das rechte Ufer schon österreichisch, während das linke Ufer erst einige Kilometer weiter, von der Einmündung des Dadelsbachs an, zum habsburgischen Gebiete gehört. An dieser Stelle ist das Bett des Stromes zu einer engen, etwa zweihundert Meter breiten Talschlucht eingeengt die ähnlich bis Wien weitergeht, wobei sich das Bett zuweilen zu wirklichen Seen mit Inseln und Eilanden verbreitert, zuweilen aber noch mehr seine Wände zusammenzieht, zwischen denen das Wasser in wilden Strudeln dahinschäumt.
Ilia Brusch schien für diese Reihe herrlicher Wandelbilder keinerlei Interesse zu verspüren und nur bedacht zu sein, die Fortbewegung des Fahrzeugs mit der ganzen Kraft seiner Arme zu beschleunigen. Die Aufmerksamkeit, die er hier der Führung der Jolle widmen mußte, entschuldigte ja einigermaßen seine Gleichgültigkeit. Außer der von vielen Sandbänken herrührenden Schwierigkeit, von der man bei einer Donaufahrt allenthalben bedroht ist, waren auch noch ernstere zu überwinden. Einige Kilometer vor Passau hatte man mit den Stromschnellen von Vilshofen zu kämpfen, und fünfzig Kilometer weiter, ein wenig unterhalb von Grein, eines der Städtchen Oberösterreichs, mit dem Strudel und dem Wirbel, die nicht weniger zu fürchten sind.
An dieser Stelle verengert sich das Tal fast zu einem von drohenden Wänden eingefaßten Gange, durch den das Wasser siedend dahinschießt. Früher machten zahlreiche Klippen die Fahrt hier höchst gefährlich, und es war nicht selten, daß die Schiffahrt ernstliche Schäden zu beklagen hatte. Jetzt ist diese Gefahr wesentlich vermindert. Man hat die schlimmsten Felsrücken, die von einem Ufer bis zum andern reichten, durch Sprengung beseitigt. Die Stromschnellen sind dadurch gemildert worden; sie ziehen die Schiffe nicht mehr so gewaltsam in ihre Wirbel, und Unfälle kommen deshalb jetzt weit seltener vor. Noch immer ist hier aber, sowohl für die großen Schuten wie für die kleinen Fahrzeuge, große Vorsicht nötig.
Das alles brachte Ilia Brusch jedoch nicht in Verlegenheit. Er folgte den Fahrrinnen, vermied die Sandbänke und überwand die Wirbel und Stromschnellen mit erstaunlicher Geschicklichkeit. Diese Geschicklichkeit bewunderte Karl Dragoch zwar aufrichtig, er wunderte sich aber doch darüber, daß ein einfacher Fischer eine so gründliche Kenntnis der Donau und ihrer tückischen Überraschungen hatte.
[80] So wie Karl Dragoch über Ilia Brusch erstaunte, war aber auch das Gegenteil der Fall. Der Fischer wunderte sich, ohne sich's erklären zu können, über die vielfachen Bekanntschaften, die sein Passagier hatte. So unbedeutend der für den Halt am Abend gewählte Ort auch sein mochte, war es nur selten, daß Jäger da keinen Bekannten getroffen hätte.

Wien, Franz Josef-Kai mit der Stephanie-Brücke.
Wien, Franz Josef-Kai mit der Stephanie-Brücke.

Dabei kam es aber nie zu einer längeren Unterhaltung. Nach dem Austausch weniger Worte trennten sich die Betreffenden wieder, und Jäger kehrte in die Jolle zurück, während die Fremden verschwanden.
Endlich konnte sich Ilia Brusch nicht mehr halten.
»Sie haben ja überall einige Freunde, Herr Jäger? fragte er eines Tages.
– Ja, so ist es, Herr Brusch, gab Karl Dragoch unumwunden zu. Das kommt daher, daß ich in diesen Landesteilen oft gewesen bin.
– Als Lustreisender, Herr Jäger?
– Nein Herr Brusch, das nicht. Ich reiste früher für ein Handelshaus in Budapest, und da sieht man ja nicht allein das Land, sondern knüpft auch, wie Sie wohl wissen, vielerlei Beziehungen mit andern Leuten an.«

Die Ansammlung nahm in kürzester Zeit einen solchen Umfang an... (S. 86.)
Die Ansammlung nahm in kürzester Zeit einen solchen Umfang an... (S. 86.)

[83] Das waren die einzigen Zwischenfälle – wenn hier von solchen die Rede sein kann – die sich vom 18. bis zum 24. August ereigneten. Nach einer am Ufer und fern von jeder Ortschaft unterhalb der kleinen Stadt Tulln verbrachten Nacht brach Ilia Brusch am letztgenannten Tage seiner Gewohnheit gemäß schon vor Sonnenaufgang wieder auf. Der heutige Tag sollte nun nicht mehr den frühern gleichen. Am Abend hoffte man in Wien zu sein, und zum erstenmale seit einer Woche fing Ilia Brusch wieder an zu angeln, um die Bewundrer seiner Person nicht zu enttäuschen, an denen es ihm in der Hauptstadt nicht fehlen konnte, wo er sein Eintreffen durch hundert Stimmen der Presse hatte ankündigen lassen.
Übrigens mußte er sich doch auch der seit einer Woche möglichst beschleunigter Fahrt vernachlässigten Interessen Jägers erinnern. Obgleich dieser sich, wie er versprochen hatte, nicht beklagte, konnte er damit, das gestand sich Ilia Brusch, doch nicht grade zufrieden sein, und, um ihm wenigstens eine scheinbare Befriedigung zu gewähren, hatte er es so eingerichtet, daß an diesem letzten Tage nur noch eine Strecke von dreißig Kilometern zurückzulegen war. Trotz Verminderung der Fahrgeschwindigkeit mußte es ihm also möglich sein. Wien zeitig genug zu erreichen, um den Ertrag seines Fischfangs veräußern zu können.
Als Karl Dragoch aus der kleinen Koje trat, war die Ausbeute schon recht beträchtlich, der Fischer hoffte sie aber noch zu vermehren. Um elf Uhr brachte er an der Schnur einen Hecht von zwanzig Pfund heraus. Das war ein so seltnes Stück, daß die Wiener Liebhaber dafür gewiß einen hohen Preis bezahlen würden.
Angeregt durch diesen Erfolg, wollte Ilia Brusch sein Glück noch ein letztes Mal versuchen; er tat damit aber, wie das weitere zeigen wird, sehr unrecht.
Wie das kam? Er hätte es selbst nicht erklären können. Tatsächlich warf er, sonst so geschickt, dabei die Schnur sehr unglücklich aus. Ob er gerade etwas zerstreut war oder sonst welche andre Ursache vorlag, jedenfalls schlug ihm der zurückschwankende Angelhaken ins Gesicht und riß ihm da eine blutende Wunde, so daß er vor Schmerz laut aufschrie.
Nach Durchreißung der Fleischteile glitt der Haken weiter und hob dabei die Brille mit den großen rauchschwarzen Gläsern ab, die der Fischer Tag und Nacht trug, und dieses wie eine Feder davongetragene Instrument [84] beschrieb schon einige regellose Kreise nur wenige Zentimeter über der Wasserfläche.
Eine halb unterdrückte Verwünschung ausstoßend, holte sich Ilia Brusch aber, nach einem unruhigen Blick auf seinen Begleiter, die davongegangene Brille wieder ein und beeilte sich, sie auf ihren frühern Platz zu setzen. Erst dann atmete er erleichtert auf.
Dieser Vorgang hatte nur wenige Sekunden gedauert, doch gerade lange genug, Jäger erkennen zu lassen, daß sein Wirt auffallend schöne blaue Augen hatte, deren lebhafter Blick mit einer etwaigen Augenkrankheit doch kaum harmonierte.
Der Detektiv mußte unwillkürlich über diese Eigenheit nachdenken, wie er ja gewöhnt war, über alles nachzudenken, was seine Aufmerksamkeit erregte, und dieses Nachsinnen fand auch noch kein Ende, als die blauen Augen hinter den sie gewöhnlich verbergenden dunkeln Gläsern wieder verschwunden waren.
Ilia Brusch angelte an diesem Tage natürlich nicht weiter. Nachdem seine mehr schmerzhafte als ernste Rißwunde oberflächlich verbunden war, packte er seine Geräte sorgfältig ein, während das Boot sich selbst überlassen der Strömung folgte, bis die Frühstücksstunde herankam.
Kurze Zeit vorher war das Fahrzeug am Fuße des Kahlenberges vorübergekommen, der, sich vierhundertdreiundachtzig Meter erhebend, die Stadt Wien beherrscht. Je weiter man nun vorwärts trieb, desto mehr verriet das Leben an den Ufern die Nähe einer Großstadt. Zuerst zeigten sich Villen, nach und nach immer dichter beieinander; weiterhin verdunkelten Fabriken den Himmel mit dem Rauch ihrer hohen Schornsteine, und bald erblickten Ilia Brusch und sein Begleiter auch einzelne Fiaker, die diesen Vororten schon den großstädtischen Stempel aufprägten.
In den ersten Nachmittagsstunden passierte die Jolle dann Nußdorf, wo die Dampfschiffe ihres Tiefgangs wegen meist anhalten. Das bescheidne Fahrzeug des Fischers stellte bezüglich der Wassertiefe geringere Anforderungen. Es trug ja auch nicht wie die Dampfschiffe Passagiere, die auf dem Kanal bis zur Mitte der Stadt befördert zu werden verlangten.
Unbeschränkt in seinen Bewegungen folgte Ilia Brusch dem großen Arm der Donau. Noch vor vier Uhr hielt er schon an dessen Ufer an [85] und befestigte seinen Anker an einem der Bäume des Praters, des berühmten Lustparkes von Wien, der dem Bois de Boulogne in Paris entspricht.
»Was fehlt Ihnen denn eigentlich an den Augen, Herr Brusch?« fragte in diesem Augenblicke Karl Dragoch, der seit dem Vorfalle mit der Brille nur sehr wenige Worte gesprochen hatte.
Ilia Brusch unterbrach seine Tätigkeit und wendete sich seinem Passagier zu.
»An den Augen? wiederholte er, etwas befangen.
– Ja, an den Augen, sagte Jäger. Ich setze doch voraus, daß Sie diese dunkle Brille nicht zum Vergnügen tragen.
– Ach so, versetzte Ilia Brusch, Ihnen ist meine Brille aufgefallen. Ja, ich bin etwas schwachsichtig und das Licht belästigt mich sehr.«
Schwachsichtig?... Und mit solchen Augen?...
Nach Abgabe seiner Erklärung legte Ilia Brusch seine Jolle vollends fest. Sein Passagier aber sah ihn recht nachdenklich an.




Quelle:


Jules Verne: Der Pilot von der Donau. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XCIV, Wien, Pest, Leipzig 1909, S. 70-73,75-81,83-85.


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